Wut - die missverstandene Emotion?

Nicht nur in der alltäglichen Oberflächlichkeit unserer Gesellschaft, auch in vielen nach Freude, Liebe und Harmonie strebenden spirituellen Kreisen hat Wut keinen Platz. Nach Möglichkeit geht es uns blendend, lächeln wir durchgehend und wir haben für alles Nachsicht und Gelassenheit.

Selbst wenn Schmerz, Angst und Trauer als Zeichen eines “tiefen Prozesses” akzeptiert sind - für Wut existiert selten ein bewusster Raum. Vor allem wohl deshalb, weil sie häufig mit Aggression verwechselt wird - selbst von vielen Therapien. Auf Kissen einzuschlagen lehrt uns zwar mit Aggressionen umzugehen, aber nicht, eine bewusste Wut zu kultivieren. Was ist bewusste Wut?

Wut ist nicht Aggression

Wut, das ist für viele so ungefähr das niedrigste Niveau, auf das ein Mensch sinken kann. Dabei ist sie zusammen mit Freude, Angst und Trauer eine der grundlegenden Emotionen des Menschen und erfüllt einen wichtigen Zweck: Wut ist die Energie, die ein verletztes Herz beschützt, die einen sicheren Raum für Verletzlichkeit bereitet.

Ich habe Jahre gebraucht, um Wut in mir zuzulassen. Meine Masche war die des “netten Typen”, immer verständnisvoll, nett, zuvorkommend. Ich verabscheute Wut, dabei war ich voll davon. Ich schluckte sie und sie brach sich irgendwann entweder als Depression, hinterhältige Gemeinheit oder blinde Aggression ihren Weg. Bis zum Schluss erzählte ich mir selbst, ich hätte keine Wut in mir - auch wenn andere sie längst sahen.

Dass die Wut bei mir einen so schlechten Namen hatte, lag wohl vor allem daran, dass ich sie schon gedanklich kaum von Aggression und Gewalt zu trennen vermochte. Ich habe auch selten davon gehört, dass diese Unterscheidung in aller Klarheit gemacht wird. Wohl am deutlichsten spricht der amerikanische Therapeut Robert August Masters davon, der mich auch zu diesem Artikel inspiriert hat:

“Die meisten von uns verwechseln Wut mit Aggression, das ist schonmal das Erste. Aber Wut, in ihrer reinen Form, ist eine verletzliche Emotion. Sie ist eine Art zu zeigen, dass einem etwas wichtig ist und dies energetisch zu betonen. Das ist keine Scham und keine Beschuldigung, nur Feuer. Es ist eine Energie, die eine Beziehung vertieft, wenn sie gut aufgenommen wird. Aggression sieht in manchen Fällen ähnlich aus wie Wut. Aber da ist keine Verletzlichkeit und sie möchte den anderen verletzen. Und wenn wir das bis zum extrem ausreizen, sind wir bei Gewalt. Die muss nicht physisch sein, sondern kann auch emotional ablaufen. Und wegen all dem hat Wut einen schlechten Ruf.”

Herz-Wut

Masters Theorie ist, dass Wut als natürliche Emotion in allen spirituellen Entwicklungsstadien auftritt, und verweist auf die Überlieferung von Jesus und anderen spirituellen Personen, die durchaus auch mal wütend wurden. Masters meint:Wut verschwindet nicht, aber die Art, wie wir mit ihr umgehen und sie ausdrücken, wird immer feiner, ihre Abgrenzung gegen die angreifende Energie der Aggression immer offensichtlicher.

Während Aggression immer eine angreifende Energie hat, kann Wut, gleichgültig wie feurig sie hervorgebracht wird eine Qualität von Mitgefühl, Verletzlichkeit und Sensibilität in sich tragen, in welcher die Liebe für das Gegenüber nicht verloren geht. Tatsächlich sieht Masters Aggression als eine Form der Vermeidung von Wut an, da Wut immer ein Eingeständnis der eigenen Verletzlichkeit ist und diese dem Gegenüber offenbart. Diese Form der Wut nennt Masters “Herz-Wut”.

“Es ist wirklich wichtig zu verstehen, dass es eine Möglichkeit gibt, wütend zu sein mit einem offenen Herz. Wir können Mitgefühl für die Person haben, mit der wir wütend sind und Mitgefühl mit uns selbst, während wir wütend sind.”

Reinheit und Grenzen

Wut ist tatsächlich alles andere als eine primitive Emotion, vor allem, weil sie sich so sehr mit anderen Gefühlen mischt: Verletztheit, Schmerz, Ohnmacht, Frustration, Verwirrung, Angst - all das und viel mehr kann in Wut enthalten sein.

Und sie könnte von ganz verschiedenen Orten in uns aufsteigen. Es könnte unser erwachsenes Selbst sein, das sein Herz und seine Grenzen beschützt und verletzendem Verhalten Einhalt gebietet. Oder gar ein “heiliger Zorn”, der unsere Leidenschaft für Gerechtigkeit und Wahrheit zum Ausdruck bringt. Sie könnte aber auch aus unseren tiefsten Verletzungen kommen, von unserem Inneren Kind und so wichtiger Hinweis auf unsere Wunden sein - sowohl für uns selbst, als auch für andere.

Meine eigenen Grenzen zu kennen und zu ihnen zu stehen, “nein” und “stop” sagen zu können, war für mich ein wichtiger Schritt zur Ganzheit. Wut in ihrer Reinheit, ist kein Angriff, sondern ein Ausdruck von Selbstliebe und Integrität mit mir selbst. Es ist eine beschützende Energie voller Kraft und warmen Feuer, eine sehr reine Form von purem, leidenschaftlichem Willen zu leben und sich zu zeigen. Als verletzlicher Mensch war es gut für mich, diesen Teil kennenzulernen und mich auf ihn verlassen zu können - die Alternative war nicht selten, das Opfer zu spielen, mich für Liebe zu verbiegen oder in Beziehungen zu verbleiben, die mir nicht gut taten.

Klarheit und Kraft

Je weniger Wut ich schluckte, je deutlicher ich meine Grenzen wahrnahm und achtete, desto weniger hatte meine Wut etwas explosionsartiges an sich, desto mehr wurde sie einfache Klarheit und Kraft. Und je klarer ich wurde, desto weniger Anlass gab es wütend zu sein, desto seltener achteten auch andere nicht auf meine Gefühle.

Am deutlichsten spiegelte mir dies das Kind meiner Lebensgefährtin. Es war offensichtlich, wie unkompliziert und dankbar sie klare Zeichen aufnahm und wie sehr sich ein “stop” von einem “Stop!” unterschied. Alles, was ich nicht energetisch unterstrich und mit meinem ganzen Wesen auch so meinte, wurde einfach ignoriert. Und das bedeutete nicht, zu schreien, sondern klar zu sein und ein “nein” durch mein ganzes Feld auszudrücken - bis zu einem Punkt, wo es nicht mal mehr eines Wortes bedurfte.

Ich bin mir sicher, dass es die Energie transformierter Wut ist, die Stärke und natürliche Autorität vermittelt, während unterdrückte Wut einen so jämmerlichen und schwächlichen Eindruck macht, dass man sich schon anstrengen muss, nicht der Versuchung nachzugeben, den anderen ein bisschen zu pieksen, bis der Ballon platzt. An der Wut hängt ein ganzes Reservoir an Lebenskraft, an “Saft”, solange ich sie unterdrückte, solange fehlte mir ein Teil meiner Kraft.

Wenn Aggression der Schatten der Wut ist, sind Klarheit, Kraft. Leidenschaft und Mut die verborgenen Geschenke, die sich zeigen, wenn diese Energie in ihrer reinen Form fließen darf.

Jenseits der Wut

Nicht immer ist es angebracht, Wut auszudrücken, aber niemals ist es angebracht, Wut zu unterdrücken. Manchmal ist es gut, die Stimme zu erheben, laut und feurig zu werden, manchmal ist es wichtig, das zu lernen, was Masters “achtsam gehaltene Wut” nennt. Dabei nehmen wir Wut bewusst war und lassen sie frei in unserem System zirkulieren, aber agieren sie nicht im Äußeren aus. Durch ein solches bewusstes wahrnehmen und ergründen von Wut, gelangen wir zu einem Mitgefühl mit unserer eigenen Wut, der Wut anderer Menschen und den vielen verschiedenen vielleicht verletzten “Ichs”, die in uns wütend sein mögen.

Erst dann öffnet sich der Raum für die “Herz-Wut”, eine Wut voller Leidenschaft, Mitgefühl und Achtsamkeit. Masters sieht dies als Stufen an: Wut unterdrücken, Wut ausdrücken, achtsam gehaltene Wut und Herz-Wut, wobei Letztere, die besten Aspekte aller vorhergehenden Stufen in sich vereint. Herz-Wut ist nicht ein Zeichen von Distanzierung, sondern von Engagement mit dem anderen, die nur trennt, um zu tieferer Intimität zu gelangen.

Ich glaube, es gibt es durchaus auch ein “jenseits der Wut”. Denn was Wut wirklich beschützt, sind Verletzungen, die eigentlich dringend unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Gibt es nichts mehr, dass wir schützen müssen, hat auch die Mut ihren Zeck erfüllt und wird zu einem anderen Zustand. Ein Zustand, in dem ich so klar mit mir, mit anderen und in meinem Feld bin, dass mir das Leben nichts mehr in mir berührt, dass mir Anlass dazu gibt, wütend zu sein. Dann steht Wut in Form reiner Kraft und Leidenschaft zur kreativen Verfügung. Und vielleicht liegt gerade in einer spirituellen Arbeit mit Wut einer der Schlüssel zum Frieden, wie auch Masters meint:

“Die Wut in unser Herz zu bringen ist nicht nur ein Akt der Liebe für uns selbst, sondern für alle Lebewesen, da eine solche Praxis die Chancen erhöht, dass wir nicht zulassen, dass unsere Wut zu Aggressivität, Feindseligkeit und Hass mutiert, sondern vielmehr in eine in Mitgefühl zentrierte Aktivität. Indem wir unsere Wut weder verbannen, noch destruktiv nutzen, bewegen wir uns ein wenig näher dazu, die Liebe zu sein, die wir uns so sehr von anderen wünschen. Wut kann Liebe sein - lassen wir zu, dass es so sei.”